Mit Lern- und Experimentierräumen in die digitale Arbeitswelt
Dokumentation der Konferenz im Rahmen des INQA-Projekts „WING“ am 18. Januar 2019 in Berlin
Autorin: Dr. Jutta Witte
Mit dem Projekt „WING – Wissensarbeit im Unternehmen der Zukunft nachhaltig gestalten“ ist ein groß angelegtes Forschungsvorhaben mit Pioniercharakter zu Ende gegangen. Wie gehen Unternehmen mit der digitalen Transformation um und wie gestalten sie ihre Organisation neu? Was bedeutet dies für die Arbeitswelt? Und vor allem: Wie erleben die Menschen diesen Wandel? Dies waren vor mehr als vier Jahren die Ausgangsfragen. Klar wurde bald, dass wir es zwar mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel zu tun haben. Dabei besteht die zentrale Herausforderung für die Unternehmen in Deutschland darin, den Umbruch in gewachsenen Strukturen voranzutreiben und Neuland gestalten zu lernen. Dazu müssen vor allem die Menschen selbst zu den Gestalterinnen und Gestaltern der digitalen Arbeitswelt gemacht werden. Die Betrieblichen Praxislaboratorien, die im Rahmen von WING entstanden sind, sind mit ihrer Erfolgsformel „Agilität, Beteiligungsorientierung und Sozialpartnerschaft“ hierfür das richtige strategische Instrument. Entwickelt im Pilotbetrieb mit der Robert Bosch GmbH und mittlerweile in mehr als 700 Unternehmen im Einsatz, haben sie ihren Praxistest erfolgreich bestanden und stehen jetzt für eine breite Anwendung zur Verfügung.
Ein Signal, dass der digitale Umbruch mit den Menschen gestaltbar ist, ging auch von der Abschlusskonferenz des Projektes am 18. Januar 2019 in der Hauptstadtvertretung der Robert Bosch GmbH in Berlin aus. Unter dem Motto „Wir gestalten Zukunft: Mit Lern- und Experimentierräumen in die digitale Arbeitswelt“ führte ISF-Wissenschaftlerin Dr. Kira Marrs 180 hochrangige Vertreterinnen und Vertreter aus Unternehmen, Gewerkschaften, Verbänden, Forschung, Politik und Medien durch ein spannendes Programm. So ließen die vier „Gründungsväter“ der Praxislaboratorien, darunter der ehemalige Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Robert Bosch GmbH Alfred Löckle, die Entstehungsgeschichte der Labs Revue passieren. Neben den beiden einführenden Keynotes von Björn Böhning, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, und von Gerhard Steiger, Vorsitzender des Bereichsvorstands Chassis Systems Control der Robert Bosch GmbH, waren weitere Highlights: Die Präsentation der Forschungsergebnisse, Berichte aus den Betrieblichen Praxislaboratorien der Robert Bosch GmbH und der Fiducia & GAD IT AG sowie zwei spannende Podiumsgespräche mit prominenten Expertinnen und Experten zu Zukunftsprojekten für die digitale Arbeitswelt und den Potenzialen von Lern- und Experimentierräumen.
Die wichtigsten Ergebnisse der Veranstaltung haben wir hier für Sie dokumentiert.
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Keynote: Chancen und Schutz im Wandel: Mit Lern- und Experimentierräumen in die digitale Arbeitswelt
Björn Böhning, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales
„Wie organisieren wir unsere Arbeitsbedingungen in Zukunft so, dass die Digitalisierung Belegschaft und Gesellschaft nicht in Gewinner und Verlierer spaltet?“ Für Björn Böhning ist das die zentrale Frage. Der BMAS-Staatssekretär verwies auf das Qualifizierungschancengesetz und das Gesetz zur Brückenteilzeit als Maßnahmen, die Schutz und Chancen im Wandel bieten. Die Politik müsse zudem „Bilder einer plausiblen Zukunft“ entwickeln. So will das BMAS im Rahmen der „Denkfabrik Digitale Arbeitswelt“ Szenarien einer digitalen Arbeitsgesellschaft 2040 entwickeln. Was Unternehmen und Beschäftigte tun könnten damit neue Arbeit gute Arbeit werde, müsse am Ende die betriebliche Praxis zeigen. Mitbestimmung, Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie, aber auch hervorragend ausgebildete Beschäftigte, böten Deutschland die Chance, beim Thema technologische Innovation ganz vorne mitzuspielen. Dass die Entwicklung neuer Technologien und Arbeitsformen im bestehenden Unternehmen, unter direkter Einbeziehung der Beschäftigten und sozial- und betriebspartnerschaftlich möglich ist, zeigen für Böhning die im Rahmen von WING entstandenen Betrieblichen Praxislaboratorien. „Dieses Pionierprojekt hat Maßstäbe dafür gesetzt wie Digitalisierung Made in Germany aussehen kann“.
Keynote: Unser Weg in die agile Organisation: Herausforderungen für Bosch Chassis Systems Control
Gerhard Steiger, Robert Bosch GmbH, Vorsitzender des Bereichsvorstands Chassis Systems Control
„Wir entwickeln uns vom Hardwarelieferanten mit dazugehöriger Software zum Softwarelieferanten mit dazugehöriger Hardware“. So beschreibt Gerhard Steiger den massiven Wandel, den Bosch gerade durchläuft. Die VUCA-Welt verändert für das Unternehmen die Rahmenbedingungen: Kundenprojekte werden komplexer, die Zahl der Plattformprojekte steigt rasant, die Entwicklungsbelegschaft wird immer größer. Im Rahmen des Betrieblichen Praxislaboratoriums „Zukunft der Arbeit“ haben zwei agile selbstorganisierte Teams unter Beteiligung aller wesentlichen Akteure im Unternehmen Handlungsfelder analysiert sowie Ideen zur Gestaltung und Skalierung der Lösungen erarbeitet. Als zentrale Stellschrauben im Wandel identifizierten sie die Unternehmenskultur und -werte sowie die Organisationsstruktur, Arbeitsmethoden und Prozesse. „Dabei zeigt sich, dass es keine „One-Size-Fits-All-Lösung gibt“, beobachtet Steiger. Neben Transparenz, Teilen von Wissen, Empowerment, Kundenzentrierung, flachen Hierarchien und neuen Arbeitsmethoden ist Führung für ihn der zentrale Hebel, um Agilität erfolgreich in der gesamten Organisation zu verankern. Ein solches „Positive Leadership“ müsse drei Perspektiven in den Blick nehmen: die Führung der eigenen Person sowie die Führung von Menschen und Geschäften.
Blick in die Praxislaboratorien: Im Gespräch mit der Fiducia & GAD IT AG
Von links nach rechts: Dr. Kira Marrs (ISF München), Gerd Müller (Bereichsleiter Architektur und Innovation), Peter Maier (Vorsitzender des Betriebsrats Karlsruhe), Oliver Fischer (Leiter Agile Center)
Auf dem Weg zum agilen Unternehmen will die Fiducia & GAD IT AG ihre Beschäftigten aktiv einbinden. Dabei setzt der Finanzdienstleister auf Betriebliche Praxislaboratorien. Ein crossfunktional und bereichsübergreifend zusammengesetztes Team hat in einem iterativen Prozess zentrale Gestaltungsfelder identifiziert und bearbeitet. Auf der Agenda standen die Selbstorganisation im agilen Team, Führung sowie das „Brennpunkt-Thema“ Scrum Master. „Wir haben uns auf die Suche nach den Good Practices in unserem Unternehmen gemacht“, berichtet Oliver Fischer. Begleitet wurde das Labteam von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des ISF München und von einem sozialpartnerschaftlich zusammengesetzten Lenkungskreis: „Er hat eine Metawirkung im Unternehmen entfaltet“, erzählt Gerd Müller. Alle wichtigen Unternehmensbereiche zu integrieren, Theorie und Praxis zusammen zu bringen und bei allen Themen die Menschen zu befragen führten das Lab zum Erfolg. „Zum ersten Mal sind wir bei der Gestaltung dieses Umbruchs auf der untersten Arbeitsebene angekommen“, sagt Peter Maier. Gemeinsam mit dem Transformationsteam der Fiducia & GAD IT AG und dem Agile Center, begleitet durch den Betriebsrat, soll diese Gestaltungsarbeit nun weiter gehen.
Forschungsergebnisse: Wie können wir den Umbruch in die digitale Arbeitswelt mit den Menschen gestalten?
Dr. Tobias Kämpf, Wissenschaftler am ISF München
Mit der digitalen Transformation stehen Unternehmen vor einem echten Paradigmenwechsel. Statt das Bestehende immer weiter zu optimieren, müssen sie Neuland gestalten lernen – auch mit Blick auf die Arbeitswelt. „Für die Bewältigung dieses Umbruchs gibt es keinen Masterplan“, erklärte Tobias Kämpf. Wie aber gelingt über Jahrzehnten gewachsenen Organisationen mit langer Erfolgsgeschichte der Weg in die digitale Zukunft? Mit den Betrieblichen Praxislaboratorien hat das Forschungsteam des ISF München ein strategisches Instrument entwickelt, mit dem Unternehmen in die Gestaltungsoffensive gehen und die Innovation ihrer Organisation voran treiben können: agil, sozialpartnerschaftlich, gemeinsam mit den Beschäftigten und im laufenden Geschäft. „Damit machen wir die Menschen zu Gestalterinnen und Gestaltern ihrer eigenen Arbeitswelt“, sagt Kämpf. Praxislaboratorien arbeiten Schritt für Schritt an neuen Lösungen und setzen auf gemeinsames Lernen. Beschäftigte entwickeln und erproben hier eigenständig und in der Praxis die digitale Arbeitswelt der Zukunft. Zentraler Erfolgsfaktor in diesem Transformationsprozess ist Vertrauen. Die Basis der Laboratorien bildet deshalb ein sozialpartnerschaftlich besetzter Lenkungskreis aus Management und Betriebsräten. Dieser sorgt für Nachhaltigkeit und die Skalierung der Ergebnisse in die Fläche. Mit diesen Prinzipien haben die Labs ein Gestaltungspotenzial, das über das einzelne Unternehmen hinausgeht: „Konsequent und ernsthaft umgesetzt können sie zur Keimzelle eines gesamtgesellschaftlichen Aufbruchs werden, der Lust auf Zukunft macht und den Menschen ins Zentrum der Digitalisierung rückt“.
Blick in die Praxislaboratorien: Im Gespräch mit der Robert Bosch GmbH
Von links nach rechts: Dr. Kira Marrs (ISF München), Helmut Meyer (Betriebsratsvorsitzender Abstatt), Martin Kieren (Projektleiter Agile Engineering)
Um die Herausforderungen zu meistern, die mit dem grundlegenden Umbruch in der Ökonomie einher gehen, ist Agilität in vielen Bereichen die richtige Antwort – auch für ein großes Industrieunternehmen wie Bosch. Aber was bedeutet dies in der Praxis? Welche neuen Rollen gehen damit einher? Und wie kann man Agilität nachhaltig gestalten? Zwei Betriebliche Praxislaboratorien, eines aus der Entwicklung, eines aus dem Bereich Sales, haben sich am Standort Abstatt diesen Fragen gestellt. „Die Laboratorien waren ein guter Anknüpfungspunkt, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen“, berichtet Helmut Meyer. Agiles Arbeiten, so eines der zentralen Ergebnisse, bedeutet nicht Beliebigkeit. Es muss zugeschnitten sein auf den jeweiligen Kontext und es braucht einen Rahmen, Sozialpartnerschaft, Kommunikation auf Augenhöhe, die Möglichkeit umzusteuern, eine neue Gesprächskultur in der Mitbestimmung und vor allem Vertrauen. „Wir müssen diese Vertrauens- und Fehlerkultur täglich und auf allen Ebenen leben“, betont Martin Kieren. In einem Wertepapier haben die Labteams gemeinsam mit dem verantwortlichen Lenkungskreis aus Management und Betriebsrat jetzt die Leitlinien festgeschrieben für das agile Arbeiten der Zukunft.
Im Gespräch: Unsere Zukunftsprojekte für die digitale Arbeitswelt
Wie kann man in Unternehmen die Zukunft gestalten und dabei die Menschen mitnehmen? Vertreter aus Unternehmen, Gewerkschaft und Betriebsrat berichteten über ihre Projekte und Lernerfahrungen. Seit 2014 befindet sich etwa die DB Systel GmbH im Umbruch vom klassisch-hierarchischen Unternehmen zur Netzwerkorganisation. Ihr Ziel: Gemeinsam mit den Beschäftigten Bereichsgrenzen überwinden, Kreativität heben, schneller werden und näher am Kunden arbeiten. Im gleichen Jahr ist der Betriebsrat der Audi AG offensiv in das Thema Digitalisierung eingestiegen, hat gemeinsam mit dem Bereich Veränderungsmanagement das interaktive und ergebnisoffene Gestaltungsprojekt „Vision Ingolstadt 2030“ durchgeführt und dabei neue Beteiligungsformate eingesetzt. Mit agiler Mitbestimmung hat sich das gemeinsame Projekt von ver.di und der Deutschen Telekom „PAKT 2020“ befasst. Hier ist es gemeinsam mit den Beschäftigten gelungen im Bereich Callcenter Arbeitsabläufe kundenfreundlicher, profitabler und prozessorientierter zu gestalten und gleichzeitig Arbeitsplätze zu sichern. Auf dem Weg zum agilen Unternehmen hat auch die Fiducia & GAD IT AG einen Visions- und Zukunftsprozess in Gang gesetzt, bei dem sie, unter anderem im Rahmen von Betrieblichen Praxislaboratorien, die Beschäftigten aktiv einbinden will.
Die Beispiele zeigen, was möglich ist, aber auch die Herausforderungen. Nach Ansicht der Experten liegen diese im Wesentlichen darin, die „alte und neue Unternehmenswelt“ sowie die dazugehörigen Belegschaften nicht zu spalten, neue Lösungen zu skalieren, Veränderungen nachhaltig zu verankern und für Sicherheit im Wandel zu sorgen. Dies gelingt nur, wenn der Prozess von der Basis getrieben und von einer Kulturveränderung und Rahmenregelungen flankiert wird. Essentiell für den Erfolg sind auch gegenseitiges Vertrauen, die Bereitschaft zu Experimenten sowie ein vorausschauendes und adaptives Vorgehen. Es zeigt sich, dass Beteiligung Mitbestimmung erweitern, ergänzen und Dynamik in den Veränderungsprozess bringen kann. Entscheidend ist, dass alle im Unternehmen dem gleichen Mind Set folgen.
Debatte: Lern- und Experimentierräume als Chance für eine neue Humanisierung der Arbeitswelt
Im gegenwärtigen Transformationsprozess bieten Lern- und Experimentierräume große Potenziale, um einen voraussetzungsvollen Umbruch nicht nur mit den Menschen, sondern auch sozialpartnerschaftlich und praxisnah zu gestalten. Hierin waren sich die Expertinnen und Experten auf dem Abschlusspodium einig. Auf dem Weg von der großen Industrie zur Informationsökonomie sind sie ein überzeugendes und authentisches Veränderungskonzept für Unternehmen, aber auch für die Gesellschaft insgesamt. Denn in einer immer volatileren Welt bieten sie die Chance, die Veränderungen in der digitalen Arbeitswelt und deren Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft zusammen zu denken, ergebnisoffen neue Wege zu erproben und zu evaluieren und in einem Prozess gemeinsamen Lernens die Zukunft zu gestalten.
Ihre positive Wirkung können diese Räume nach Überzeugung der Diskutantinnen und Diskutanten dann entfalten, wenn in der ganzen Organisation eine Kultur des Experimentierens gelebt wird, die auch Fehler und ein zwischenzeitliches Scheitern zulässt. Wenn es zudem gelingt, das Wissen, das in Lern- und Experimentierräumen entsteht, zu teilen, und die dort mit den Beschäftigten und den Sozialpartnern erarbeiteten Lösungen und Konzepte für eine breite Anwendung zur Verfügung zu stellen, kann dies eine menschengerechte Gestaltung der digitalen Arbeitswelt insgesamt vorantreiben. Denn entscheidend für eine erfolgreiche Gestaltung ist es, dass Belegschaften nicht gespalten werden und alle den Transformationsprozess mitgehen können: diejenigen, die eher die Chancen der Digitalisierung sehen und ihn forcieren wollen, aber ebenso diejenigen, die skeptisch sind und befürchten, zu den Verlierern des Umbruchs zu gehören. Schutz und Sicherheit neu organisieren und sich für neue Formen der Sozialpartnerschaft und des Konfliktmanagements öffnen: Auch dies gehört neben neuen Wegen in der Gestaltung zu den Herausforderungen des digitalen Umbruchs.